Demnächst ist Mittagspause und Pizza essen im Da Vinci mit der kleineren Urlaubsmannschaft. Noch rasch Frau X verabschieden und los. Ein Blick ins Wartezimer, neben Patientin X, einer älteren Dame, sitzt dort eine weitere Person mit der ich nicht gerechnet habe. Haben wir jemanden vergessen? Nein, werde ich von Anne aufgeklärt, es handle sich um die Schwiegertochter der Patientin, die hätte die Taxifahrerin gegeben. Schön.
Mit dem Röntgenbild in der Hand gehe ich ins Wartezimmer, bespreche mit der Patientin den Befund und will mich gerade verabschieden, als die Begleiterin sich an mich wendet. Ob ich auch nach Ihrem Zahnproblem schauen könnte, sie hätte Schmerzen seit vielen Jahren. Könne sie einen Termin bekommen? Gerne antworte ich, sie können aber auch gleich drankommen. Einerseits sehe ich zwar schon die Pizza vor meinem Auge vorbeifliegen, andererseits bin ich neugierig, da war was. Sie würde aber gerne auch nochmals kommen, insistiert die Begleiterin, das sei kein Problem. Patientin X klinkt sich ein, bleib doch da, dann müsse man auch nicht extra herfahren. Mitunter herrlich pragmatisch, diese älteren Leute.
Die „neue“ Patientin berichtet über Schmerzen seit vielen Jahren auf der linken Seite, der letzte Behandlungsversuch sei von ihr erst unlängst abgebrochen worden, ein Zahn wäre mit Zement versorgt worden. Röntgenbild und Vitalitätsprobe sind unauffällig, dafür ist der Funktionsbefund spektakulär. Kein Muskel der nicht mindestens druckdolent ist, teilweise weicht die Patient schon bei der bloßen Berührung aus. Ob sie eine Schiene getragen hätte? Ja, antwortet sie und sie wisse auch um das Knirschen und Pressen, es ginge schon seit ewigen Zeiten so. Ich fasse meine Untersuchung zusammen und referiere noch über das Wesen der Cranio-manibulären Dysfunktion. Ob sie gerade mehr knirscht als sonst, ob sich etwas verändert hätte, in der Firma, in der Familie? Sie antwortet leise, mit dünner Stimme. Schleichend, kaum merklich vollzieht sich während unseres Gesprächs ein Wandel: an die Stelle der resoluten Patientin, energisch und bisweilen fordernd auftretend, tritt immer mehr die besorgte Mutter, ratlos und unendlich traurig. Ein Problem in der Familie und die Lösung in weiter Ferne. Und während die Behandlungen ohne Erfolg seinen würde sich derjenige immer mehr zurückziehen, die Hilfe ablehnen …. sich stumm zur Wehr setzen.
Unser Gespräch endet nach knapp 45 Minuten. Und geht mir in den kommenden Stunden nicht mehr aus dem Kopf. Freue mich über die vermeintliche Lösung des Zahnproblems, denke an die unendlichen Möglichkeiten der personzentrierten Beratung. Am Abend Supervision mit der Gattin. Was tun? Ein weiteres Gespräch anbieten? Am nächsten Tag fasse ich mir ein Herz und rufe die Patientin an. Ich biete ihr eine Fortsetzung des Gesprächs im Rahmen einer Beratung an. Zunächst ist sie überrascht, dann neugierig, schließlich interessiert. Sie müsse jedoch erst die Stundenpläne der Kinder abwarten, schließt sie ab, und will sich dann telefonisch melden. Dabei bleibt es. Rogers hat hierzu folgendes formuliert: Um sich weiterzuentwickeln, Neues zu erproben zu können, „setzt der entfaltende Aspekt der Aktualisierungstendenz die ausreichende Gewährleistung des erhaltenden Aspekts voraus“ oder kurz: erst die Termine, dann das Vergnügen.